Kommt jemand neu in eine Stadt, verläuft der erste Schritt zur Gewöhnung über einen Teil seiner selbst. Erst danach beginnt man, Teile der Stadt aufzunehmen. Diese Beobachtung, die auch als fotografische Metapher verstanden werden kann, erinnert mich an einen Radiobeitrag von Michel Foucault aus dem Jahr 1966, in dem er bemerkt:
„Unter den Fingern des Anderen, die über den Körper gleiten, beginnen alle unsichtbaren Teile des Körpers zu existieren. An den Lippen des Anderen werden die eigenen Lippen spürbar. Vor seinen halb geschlossenen Augen erlangt das eigene Gesicht Gewissheit.“
Foucault hat diese Zeilen über die Liebe geschrieben. Die Liebe, die für ihn die größte Heterotopie aller Räume und Zeiten ist. Im Zentrum der Heterotopien, der realisierten utopischen Räume steht der menschliche Körper. Er ist der "Hauptakteur aller Utopien", sagt Foucault in seinem zweiten Radio-Essay, der den Titel "Der utopische Körper" trägt.
Der eigene Körper als Utopie? Nichts sollte doch realer sein als der eigene Körper? Diese Befremdlichkeit wird von Foucault so kommentiert:
Wer hat ohne Zuhilfenahme eines Spiegels oder einer Kamera je seine Stirn, seine Ohren, seinen Hinterkopf, seinen gesamten Rücken gesehen? So wie es reale utopische Orte gibt, so sind auch Teile des eigenen Körpers heterotopische Landschaften. Und weil wir Menschen dies wissen oder zumindest erahnen, verlangt es uns nach Utopien.
Bei den hier gezeigten wie gedruckten Arbeiten handelt es sich um Heterotopien, so lautet jedenfalls der Titel der Diplomarbeit von Karsten Kronas an der FH Bielefeld, wo er – ebenso wie an der Marmara Universität Istanbul – bis 2008 Fotografie studierte. Zuletzt hatte Kronas ein Stipendium als Residenzfotograf der Stadt Koblenz inne.
Koblenz mag – wenn es in einer Reihe mit seinen letztjährigen Aufenthalten – Hong Kong, Australien, Ungarn, Japan und eben der Türkei – genannt wird, ein wenig provinziell klingen: Was Koblenz aber mit all den anderen Städten und Ländern verbindet, ist der Blick, dem sie ausgesetzt waren. Denn gleichgültig, ob Kronas australische Wellen, japanische Teenager oder türkische Hinterhöfe fotografiert – immer portraitiert er sie. Egal, ob wir eine Landschaft,eine Pfütze, fliehende Tiere oder eine Häuserwand sehen – sie sind stets Portraits im Dreiklang von Annahme, Gefangennahme und Nachahmung.
12 oder 15 Millionen? Istanbuls Einwohnerzahl hat einen Schwankungsbereich, der zahlreiche europäische Städte schlucken würde. Niemand weiß, wie viele Menschen dort leben, niemand kann sie zählen. Wenn Zählung der erste Akt ist, um etwas kategorisierbar, beherrschbar zu machen, behält sich Istanbul seine Unberechenbarkeit vor, verteidigt seine demographische Unschärfe. Reicht allein die Tatsache aus, dass man mit ebenso vielen Durchreisenden wie Einwohnern rechnet, um diesen Ort zur Heterotopie zu erklären?
Medizinisch betrachtet bezeichnet Heterotypie einen ‚falschen Ort’, einen Ort, an dessen Platz ein Gewebe wächst, das dort nicht vorgesehen war. Doch Istanbul und insbesondere Beyoglu sind hier nicht nur Klammer und Raum, sie fungieren als Organismus, als – im Sinne Foucaults – „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlagerer, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind.“ Die türkische Schriftstellerin Sema Kaygusuz schreibt über Istanbul, es sei eine Stadt, „die sich mehr aus ihren Entbehrungen, ihren Mängeln formt denn aus ihrem Vermögen. Verfällt sie auf der einen Seite, erneuert sie sich auf der anderen. Sie verbrennt, versinkt im Elend, geht zugrunde, erblüht auf der anderen Seite aber zu immer neuem Wachstum.“
In einer Stadt, die nach all den Bränden, Erdbeben, Okkupationen, Überschwemmungen und Aufständen stets neu aufgebaut wurde, sind Träume notwendig, existenziell sogar. In Kronas’ Bildern sind jene Träume, die Utopien, komplementärer Teil der Heterotopien. Bezeichnet die Heterotopie reelle Räume, sind die potentiellen, möglichen Orte immer in sie eingeschrieben und im Detail lesbar. Details wie die eiserne Uhrenkette, die seinen ausgemergelten Träger fast aus dem Bild stürzen lässt; die Hand am Fenster, die sich dem fotografischen Seelenraub erwehren möchte oder ein Geflecht von Wurzeln und Ästen, dem durch Perlen- und Puppenbeigaben so etwas wie Dekorativität erwächst.
Der anmaßenden Unterstellung und dem selbstgefälligen Vokabular, dass man im Bild alles erfahren, erzählen und bergen kann, setzt Kronas bewusst den Zweifel entgegen. Sein visueller Zweifel schlägt sich nieder in schwarzen Wänden, vor die die Portraitierten – wie Rehe im Scheinwerferlicht – als aufgescheuchtes Wild blinzelnd dem objektiven Blick begegnen.
Die Personen, die Kronas’ Bilder bevölkern, scheinen Nachtwesen zu sein, teils erschrockene Tiere, die durch die Kamera ertappt werden, teils souveräne Regisseure ihrer selbst, deren korrekt gezogener Lidstrich momentane Überlebenschancen in dieser pfadlosen Landschaft sichert.
Kronas sagt selbst, dass in Beyoglu ein gewisser Raum geschaffen wird, der seine Struktur und die der Bewohner ganz oder zum Teil zu seinem eigenen internen Ordnungsprinzip macht; und dass für ihn daher eine Heterotopie immer mit eigenen Interessen, Erwartungen und Bezugspunkten zu den Bewohnern interagiert.
Doch welche Interessen und Erwartungen mögen dies sein? Wie lauten die Versprechen? Sucht man im andern nicht immer das Echte, „authentische“? „Authentisch“ bedeutet wörtlich das, was von alters her besteht. Eine reine Existenzform ist damit gemeint, die sich in den Zellen der Stadt abgesetzt hat. Istanbul indes entwickelt sich zusehends zu einem exotischen Ort, einem interessanten, der Provinz zuzurechnenden Raum, einem touristischen Plateau. Dabei ist nichts, was diese sehen, echt. Nur exotisch und wieder exotisch. Durch die Dichte ihrer Verbindungen und Netzwerke und die Kraft, die sie ausstrahlt, unterläuft eine Stadt manchmal das Nationalprinzip. Sie wird transnational, politisch diaphan, zur „urbanen Schicksalsklasse“, ein Glied in der globalen Kette ähnlicher Städte. Istanbul ist eine solche Stadt.
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die eigene, den Orten zugrunde liegende Zeitstruktur, die Foucault als Heterochronie bezeichnet und die die Heterotopien nach außen hin abgrenzt: Er sagt „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“. Auch der Moment, in dem sich beim Portrait Bild und Referent gegenüberstehen, ist notwendigerweise vergangen. Ebenso vergangen wie das osmanische Reich, als dessen Hauptstadt Istanbul immer noch mit Vorstellungsfetzen kostümiert wird, die – regelmäßig abgestaubt – an überkommene Größe erinnern sollen.
Doch die überwucherte, abgetragene, aufgerissene Architektur, die als Wundmal von den Umbrüchen eines Stadtteils erzählt, der seit dem 13. Jahrhundert dokumentiert ist, bietet kein klassisches Heim, keinen sicheren Rückzugsort in ehernen Mauern mehr. Das Leben wuchert aus und wächst in die Gebäude, sie selbst können nur fragmentarisch der Kamera von Spuren einer Utopie erzählen, die sich in verblichenen Bildern und zerbrochenen Mosaiken nur so kurz manifestiert, wie der Kamerablitz ein Schlaglicht auf das Dunkel wirft.
Hijacked Volume 2 Australian and German Photography
Anknüpfend an den erfolgreichen Vorgängerband "Hijacked 1 – Australia and America" legen der Australier Mark McPherson und seine Mitherausgeber wieder eine umfassende fotografische Anthologie vor, die uns zwei gesellschaftlich äußerst unterschiedliche fotografische Nationen vor Augen führt. "Hijacked 2" präsentiert die vielfältigen Talente und Sichtweisen von 32 zeitgenössischen australischen und deutschen Fotografen. Mit einem deutlichen Fokus auf jungen Fotografen, Grenzgängern und abseits des Mainstream angesiedelten Künstlern weist "Hijacked 2" vielschichtige Bildwelten auf: bewegend, provokativ, traumhaft und verstörend.
Künstler in Hijacked Volume 2: Australien: Narelle Autio, James Brickwood, Michael Corridore, Andrew Cowen, Tamara Dean, Jackson Eaton, Suzie Fox, Lee Grant, Derek Henderson, Rebecca Ann Hobbs, Ingvar Kenne, Bronek Kózka, Georgia Metaxas, Conor O'Brien, Polixeni Papapetrou, Louis Porter. Deutschland: Johanna Ahlert, Natalie Bothur, Jörg Brüggemann, Thekla Ehling, Albrecht Fuchs, Jan v. Holleben, Karsten Kronas, Anne Lass, Jens Liebchen, Myriam Lutz, Julian Röder, Josef Schulz, Oliver Sieber, Ivonne Thein, Olaf Unverzart, Sascha Weidner.
Pressestimmen: "Ein herausragender Bildband ist "Hijacked 2" geworden, der Arbeiten junger deutscher und australischer Fotografen zeigt." PAGE online
"Im Prinzip kommt hier zusammen, was nicht unbedingt zusammen gehört, aber gerade die Unterschiedlichkeit der Ansätze sind die Stärke eines Bandes, bei dem man sich gern entführen lässt." PHOTOinternational, 6 | 2010