Auch diese unendliche Geschichte könnte ihren Ursprung auf einem staubigen, dunklen Dachboden gefunden haben, ausgelöst durch einen unmerklichen Impuls - wie der flüchtige Blick in den grauen Karton mit vergilbten Familienfotos anstatt in den roten. Möglicherweise ist dieser Anlass zu unter- schwellig, als dass man ihn genau rekonstruieren oder benennen kann. Dennoch könnte er von großer Bedeutung sein und die Geschichte vorantreiben.Vielleicht aber beginnt die Geschichte auch auf einem Musikfestival, am Rande eines Flussufers oder durch eine zufällige Begegnung in der Stadt, sagen wir auf dem alljährlichen Kaiserin-Augusta-Fest in Koblenz.
Karsten Kronas ist für ein Jahr Stadtfotograf von Koblenz und er taucht auf eine Art und Weise in die Stadt ein, die möglicherweise genau das Gegenteil der gegenwärtigen gesellschaftlichen Trends dar- stellt: dem Drang nach immer mehr Sicherheit in einer Zeit zunehmender Unsicherheit. Es sind die kleinen unbedeutenden Anfänge einer unendlichen Geschichte, die Kronas veranlasst, immer weiter zu erzählen. Er zieht als neugieriger Flaneur durch die Straßen der Stadt, als Unbekannter, der die zufälligen Begegnungen sucht und Menschen trifft, die der Fotograf später mit einem Band der Untrennbarkeit verbindet. So nimmt er uns als Betrachter ebenfalls mit auf eine Suche, die die scheinbar frem- den Geschichten zu einem Teil der eigenen werden lässt. Jeder kann sein Ich im Wir wieder finden.
Erleichtert wird dieses ‘Wir-Gefühl’ durch die Hinzunahme von gefundenen Bildern aus den Fotoalben der Familien, die Kronas mit seinen eigenen Fotografien auf geschickte Weise kombiniert. Diese Spannung zwischen öffentlichem Raum und privater Sphäre, zwischen detailreicher Beobachtung und gezielter Aneignung von Fremdmaterial schafft neue, aber auch bekannte Kontexte, die in Kronas’ Geschichten ein Gefühl des Vertrauens provozieren.
Erst durch diese Bereitschaft, die einzelnen Geschichten auf den Fotografien in Bezug zueinander zu interpretieren, bekommen die losen Versatzstücke eine Bedeutung, die immer neue Fragen aufwerfen: Könnte Schwester Jessica in einer Trutzburg wie der Festung Ehrenbreitstein leben? Ist der Schutz einer Maske dem Schutz einer Burg vergleichbar? Verborgen hinter Masken und Mauern verstecken sich unzählige Geschichten. Sabine, die auf dem Kaiserin-Augusta-Fest als Kaiserin Augusta verkleidet ist, kennt auch Mattes, den Rock and Roller. Der wiederum kennt Dagny, eine junge Frau, deren Vorfahre Josef Juchem Boyce 1923 – beim vierten Anlauf – als blinder Passagier nach Amerika emigrierte, denn die amerikanischen Besatzer in Koblenz hatten ihn in seiner Jugend möglicherweise stark beeinflusst. Was aber hat das mit Selina zu tun? Woher kennt sie die religiöse Familie mit Talent zur Hundezucht?
Mit Hilfe der Bildtitel kann der Betrachter neben der visuellen Information auch auf eine Ebene der Fakten zurückgreifen. Josef Juchem Boyce zum Beispiel hinterließ offenbar keine Fotografien, die in Deutschland entstanden sind. Alle Aufnahmen von ihm, die Kronas gefunden hat, wurden in den USA fotografiert. Doch wer ist der Überbringer? Nur scheinbar lernt Kronas diese Person kennen, denn Josef Juchem Boyce ist seinem Alter nach lange verstorben, ihn kann er nie getroffen haben.Durch diese Freiheit der Bilder und deren Interpretation bleibt ihre Bedeutung in ständiger Bewegung und soll weniger Aufschluss über die Stadt Koblenz geben, als vielmehr immer neue Verbindungen aufdecken, die auf der Grundlage ihrer ästhetischen Eigenschaften, die Einbildungskraft aktivieren und so eine offene Form der Assoziation ermöglichen.
Auch in seinen früheren Arbeiten konzentriert sich Kronas bereits auf Nischen der Städte. Hier sei die Arbeit “Heterotopien” erwähnt, in der es weniger um eine Dokumentation real existierender Orte und ihrer Bewohner in der Metropole Istanbul geht, sondern um die Widersprüchlichkeiten des vielfältigen Lebens, aufgenommen in atmosphärisch dichten Farbbildern. Ähnlich wie in seiner Annäherung an die Stadt an Rhein und Mosel muss der interessierte Betrachter die Fragmente der Stadt am Bosporus immer wieder neu zusammensetzen, um den Kosmos des Fotografen zu begreifen. Denn das Ergebnis seiner Arbeiten ist immer eine sehr subjektive Erzählform mit objektiven Bildern. Gegen die Gewohnheiten des Alltags weisen die Bilder auf die vieldeutige Komplexität des Lebens hin, die manchmal so undurchsichtig scheint wie das bunte Sammelsurium von zusammen gewürfelten Spielfiguren. Die Fotos zeigen das große Ganze, Zusammenhänge haben Spielraum, die unendliche Geschichte geht weiter. Essay aus dem Katalog „Schenkendorfstraße 1“ Stipendium Koblenzer Stadtfotograf, 2010