Ist Mr. X ein Dieb? Ist er es, der in Tel Aviv Karsten Kronas’ Handy gestohlen hat? Zumindest ist er es, der unerwartet zum Geist wird: Durch die Drop-Box-Schnittstelle seines Handys sieht Kronas jedes Foto, das Mr. X mit der Kamera macht, sieht ihn, seine Freunde, eritreische Hochzeiten, eine andere Stadt als die, in der er war.
Zurück in Tel Aviv begibt er sich auf die Suche nach Mr. X, eine Suche, die längst keine Suche nach einem gestohlenen Handy mehr ist. Die Stadt, die er findet, ist Heimat einer meist illegal eingereisten Gemeinschaft von orthodoxen Christen aus Eritrea, die in ihrem Land keine Zukunft mehr sehen. Kronas’ Serie, die eigene Fotografien mit Fotos von Mr. X verbindet, ist als Suche längst metaphorisch geworden: Mit panoptischen Bildern und konzisen Details umkreist er Fragen, die auch visuell aus einer gezielten Nachforschung eine Odyssee werden lassen; Fragen nach Identität, Heimat und Glaube, Fragen, die er nicht nur Mr. X stellt.
Is Mr. X a thief? Was it him who stole Karsten Kronas‘ mobile phone in Tel Aviv? At least it is him who unexpectedly turns into a ghost: through the Dropbox-interface of his mobile phone, Kronas sees every photograph Mr. X takes with the camera, sees him, his friends, Eritrean weddings, a city different from the one he has been to.
Back in Tel Aviv, he sets out searching for Mr. X, a search that is no longer one for a stolen mobile phone. The city he finds is home to a community of Orthodox Christians from Eritrea who do not see any future in their home country. Krona’s series that combines his own photographs with those of Mr. X has long turned metaphorical: With panoptic images and concise details he revolves around questions which also visually transform a specific inquiry into an odyssey; questions of identity, home, and faith, questions he is not only asking Mr. X.
Searching for Mr. X
(2012-2018)
Searching for Mr.X
Belgrade Photo Month, 2021
Die Serie von Karsten Kronas gewährt Einblick in ein Viertel, dessen Geschichten nur unter der Hand erzählt werden, dessen Straßen und Häuser öffentlich kaum sichtbar sind. Der israelische Autor Sharon Rotbard nennt sie die „schwarze Stadt“. Jene Teile, die vom offiziellen Tel Aviv, der „weißen Stadt“, überschattet werden. So überschattet wie auf Kronas’ weitwinkligen Straßenansichten, die er der tiefstehenden Sonne abgerungen hat.
Es begann so: Ein paar Wochen, nachdem in Tel Aviv Kronas’ Handy gestohlen wurde, bekommt er über seine Dropbox-Schnittstelle, die mobile Fotos online speichert, Bilder zu sehen, die er nicht gemacht haben kann. Sie zeigen einen jungen Mann aus Eritrea, Mister X, seine Freunde, eritreische Hochzeiten, eine andere Stadt als die, die er kannte. Zurück in Tel Aviv begibt er sich auf die Suche nach Mr. X, eine Suche, die ihn auch nach Eritrea führte und die längst keine Suche nach einem gestohlenen Handy mehr war.
Auf den Fotos erkennt er Shapira wieder, ein südliches Stadtviertel von Tel Aviv mit breiten, bis zu fünfspurigen Straßenzügen, eben gepflasterten Bürgersteigen, Häuserblöcken, die oft kaum mehr als dreistöckig sind. Ein Viertel, das vor fast zehn Jahren infrastrukturell aufgebessert worden ist. Aber auch ein Stadtteil, der in vielen Reiseführern ausgespart wird, da er heute vor allem für seine Armut und die heterogene Bevölkerungsstruktur bekannt ist. Niemand weiß genau, wie viele Menschen aus Eritrea in Shapira Zuflucht finden. Schätzungen zur Folge sind es allein in den letzten Jahren 60.000 gewesen. Dabei ist Eritrea gerade mal 23 Jahre alt. Genauso alt wie die meisten Menschen, die von dort fliehen. Berechnungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen zufolge verlassen jeden Monat etwa 5000 junge Eritreer ihr Land. Sie flü̈chten vor einer paranoiden, diktatorischen Regierung, die den ursprünglich 18 Monate langen Militärdienst inzwischen auf Lebenszeit verlängert hat – und die Wehrpflichtigen als Zwangsarbeiter einsetzt. Deswegen haben laut dem UN-Flüchtlingskommissariat im Jahr 2013 weltweit 83 Prozent aller Asylsuchenden aus Eritrea eine Form von Schutz erhalten. In Israel sind es 0,1 Prozent.
Es ist eine übermüdete Art von Neugier, die sich in dieser Serie zeigt. Hinfort getragen aus jener Ordnung, in der es sehr gerade und aufrecht zugeht und eine Wand stets Wand zu sein hat, ein Dach stets Dach. Denn Kronas’ Linien sind nie gerade. Selbst wenn sie gerade wirken, ist jede zentralperspektivische Flucht ein wenig versetzt, jede frontale Wand schneidet doch die Decke an, jede Horizontale läuft schief. Das Foto wird zum Balanceakt, genau wie Shapira und seine Bevölkerung: eine Ausbalancierung von Schönheit auf Wüste unter dem Himmel. Eine Balance zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zwischen verfolgten Christen im Land der Juden, zwischen alten Juden und jungen Flüchtlingen aus Afrika. Alle, auch die Fotos, leben in dieser unverfügten Welt. Denn Tel Aviv ist nicht die Stadt aus Sand, als welche sie sich gerne sieht. Sand als Metapher für gesellschaftliche Äquivalenz und soziale Gleichheit ist für viele einer anderen Metapher gewichen. Dem Hain, der Baumgruppe, dem isolierten Vorkommen unterschiedlicher Nationalitäten auf engstem Raum.
Die silberfarbene Schaufensterpuppe, die vor der schwarzen Wand Frieden verspricht, scheint eine Allegorie dieser Suche zu sein. Ein Versuch, etwas fest zu halten, das immer nur das eigene Bild zurückwirft. Eine Projektion, die allein dich und dein Erkenntnisinteresse zeigt. Wenn man auf jeder Suche letztendlich nur sich selbst sucht, ist diese spezielle Suche, initiiert von Fotografien und vollzogen in Fotografien, für einen Fotografen immer autobiografisch.
Autobiografisch und existenziell, weil sie die Suche nach einer Leerstelle ist, die immer Leerstelle bleiben wird. Mister X wird nicht gefunden werden. Finden kann man - und damit verbindet sich die Fotografie als indexikalisches Medium mit religiösen Praktiken - Reliquienbilder. Reliquien erster und zweiter Ordnung, Berührungsreliquien vielleicht, Blicke, die man geteilt hat, Lebensumstände, die man nie teilen, aber erahnen und in ihnen verloren gehen kann. Und sind die Bilder, die Mister X macht, nicht auch Zeugnisse dessen, woran er glaubt? Seine Freunde, seine Familie, seine Heimat?
Ein Schlüsselelement in dieser Arbeit ist vielleicht die Vorliebe, die Kronas immer für Orte und Gegenstände gehabt hat, die alles enthalten: Straßen, Menschen, Räume. Nie ist der Raum einfach nur Raum. Und selten spricht er nur eine Sprache. Man sieht Leid in diesen Bildern, Staub, die Suche nach Ordnung und Haltung. Man sucht in ihnen das, was nicht aufgeben wird, wenn man auf der Flucht ist. Wenn die Heimat in 5 qm passen muss. Kronas fotografiert oft Wände als sprechende Wände, als vollgestellte, farbige Möglichkeit, Heimat in der Fremde zu behaupten, Ausstellungsflächen für Tradition und Religion, die einzigen, die man hat. Aber auch Wände, die keine Türen haben. Man kann nur auf, nicht hinter sie blicken. Man weiß nur, was sie behaupten, nicht, was sie verbergen.
Wenn Kritik und Solidarität etwas anderes als eine Oberflächenvereinbarung von Produzenten und Konsumenten sein soll, muss man Fotografie als gemeinsamen Erfahrungsraum rekonstruieren. Jedes Foto muss einen eigenen Weg finden, diesen Widerspruch zwischen dem Objekt und dem Objektiv zu überwinden. Die lupenhafte Sorge um ein fremdes Schicksal gibt Wärme an uns ab. So hat Walter Benjamin die Wirkung eines guten Romans beschrieben. Kraft einer Flamme, die dort verzehrt wird, kriecht sie durch die Seiten. Aber Seiten braucht man nicht unbedingt, um diese Wärme zu spüren. Fotopapier geht auch.